von Amardeo Sarma und Anna Veronika Wendland
Am 11. März 2024 jährt sich das Große Nordostjapanische Erdbeben (Tohoku-Erdbeben) zum 13. Mal. In Deutschland wird daran vor allem erinnert, weil dieses Erdbeben mit Tsunami zum Mehrfach-Reaktorunfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi führte. Das wiederum war der Anlass zum beschleunigten Atomausstieg der Bundesrepublik, der am 15. April 2023 mit der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke vollendet wurde.
Seit 2011 sind viele Falschaussagen über Fukushima in Deutschland im Umlauf. Sie werden auch in diesem Jahr voraussichtlich wieder auftauchen.
Wir haben schon umfangreich mit einer Menge Quellen darüber berichtet, aber fassen hier die wichtigsten Punkte noch einmal zusammen, ergänzt um einige neu hinzugekommene Aspekte.
Der Fukushima-Unfall
Was ist am 11. März 2011 passiert? Infolge eines Extrem-Erdbebens mit nachfolgendem Tsunami wurden vier von sechs Blöcken des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi an der japanischen Pazifikküste von ihrer betrieblichen Stromversorgung getrennt und von einem Tsunami überflutet. Die Schnellabschaltung, Notstromversorgung und Nachkühlung der Reaktoren nach dem Erdbeben verlief planmäßig, aber der kurze Zeit später eintreffende Tsunami überflutete Einrichtungen der Nachkühlkette, die Notstromversorgung und die leittechnischen Einrichtungen. Die Anlage stand blind und stromlos da, der gefürchtete station blackout war eingetreten.
Da auch die notstromversorgten Aggregate der Nachkühlsysteme stillstanden, konnten die Reaktoren und Lagerbecken für Brennelemente nicht mehr gekühlt werden. In drei Blöcken kam es zu Kernschmelzen, außerdem nahmen gelagerte abgebrannte Brennelemente (geringeren) Schaden. Infolge ungefilterter Druckentlastungen und durch erdbebenbedingte Leckagen entwichen große Mengen radioaktiver Stoffe ins Freie. Freiwerdendes Wasserstoffgas sammelte sich außerhalb der Reaktorsicherheitsbehälter in den Reaktorgebäuden an und sorgte dort für Explosionen, die die Arbeiten zur Wiederherstellung der Notkühlung mit Meerwasser verzögerten. Es waren vor allem die visuell spektakulären Wasserstoffexplosionen in Fukushima, die das Bild des Unfalls in der Weltöffentlichkeit prägten. Obwohl hier keine Reaktoren explodiert waren, sondern außerhalb des Sicherheitsbehälters liegende Anlagenräume, wurde Fukushima mit dem weit opferreicheren Tschernobyl-Unfall gleichgesetzt, wo wirklich der Reaktor selbst explodiert war.
Infolge der Überflutung kamen drei Atomarbeiter ums Leben. Mehr als 150.000 Menschen wurden aus der Umgebung des Kernkraftwerks evakuiert. Eine Krebserkrankung mit Todesfolge, die aber vermutlich nicht auf den Unfall selbst zurückgeht, wurde arbeitsgerichtlich als im Zusammenhang mit dem Unfall stehend anerkannt. Das United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) schätzte die erwartbare Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Krebserkrankungen unter den Atomarbeitern als so klein ein, dass sie statistisch nicht ins Gewicht falle; unter der zeitig evakuierten Zivilbevölkerung seien keine Opfer zu erwarten. Darüber berichteten wir auch im Skeptical Inquirer.
Diese Bilanz ist angesichts der Verwüstungen auf der Anlage insgesamt glimpflich. Das hatte auch mit den günstigen Wetterbedingungen zu tun: Während der Freisetzung gab es nur geringe Niederschläge und der Großteil der radioaktiven Wolke wurde von westlichen Winden aufs freie Meer hinausgetrieben und rasch verdünnt.
Der Unfall in Fukushima war also ein schwerer Industrieunfall mit beträchtlichen ökonomischen Schäden. Im Lichte der Fakten war er aber nicht die globale Katastrophe, für die er in Deutschland gehalten wird. Aber er wurde zu einem globalen Symbol für die Gefahren der Kernenergienutzung und zu einem Mobilisierungsmoment für Anti-Atomkraft-Bewegungen weltweit.
Aus japanischer Sicht ist die Gewichtung jedoch anders. Die Folgen des Atomunfalls verblassen vor dem Hintergrund der schwerwiegenderen Zerstörungen und Opferzahlen der Naturkatastrophe. Das Tohoku-Erdbeben war für Japan eine der schwersten nationalen Katastrophen der jüngeren Geschichte. Das, und nicht der Atomunfall, steht im Zentrum der japanischen Erinnerungskultur. Seit einigen Jahren vollzieht Japan, wo nach dem Unfall die meisten Kernkraftwerke für eine mehrjährige Überprüfung abgeschaltet wurden, eine behutsame Rückkehr zur Kernenergienutzung. Auf dem Gelände des havarierten Kernkraftwerks schreiten die Aufräumarbeiten langsam voran. Das in Behältern aufbewahrte, gefilterte, aber mit Restkontamination versehene Kühlwasser aus dem Kraftwerk wird seit 2023 ins Meer abgeleitet, ein Prozess, der mehrere Jahrzehnte dauern wird.
Deutsche Panikreaktion
Die deutsche Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat auf die Ereignisse in Fukushima unter dem Druck einer hoch mobilisierten Bevölkerungsstimmung und Medienberichterstattung gegen die Kernenergie abrupt und irrational gehandelt. Anstatt die Unfallanalysen abzuwarten, wurde eine vorgebliche Notstandssituation konstruiert, um acht Reaktorblöcken sofort die Betriebserlaubnis zu entziehen.
Um den totalen Atomausstieg zu legitimieren, brauchte man eigentlich eine technische Begründung, nämlich den Nachweis der Übertragbarkeit des Unfallgeschehens auf deutsche Anlagen. Die Fachleute, die die Regierung berieten, kamen aber zu dem Schluss, dass eine solche nicht vorliege. Daher begab man sich auf das sachfremde Feld der Moralphilosophie, um den Atomausstieg, eine weitreichende energiesystemtechnische Entscheidung, zu legitimieren. Anstelle einer wissenschaftlich-technischen Enquete wurde eine „Ethikkommission“ eingesetzt, die aber nur die Aufgabe hatte, eine bereits feststehende politische Entscheidung zu legitimieren. Ergebnisoffen durfte sie nicht diskutieren, und in ihr fehlten Fachleute für Kerntechnik. Auch hat sie keine ethischen Überlegungen über eventuelle negative Folgen des Atomausstiegs angestellt, genausowenig wie ethische Überlegungen über das Gebot der Beibehaltung der Kernenergie. Die, wie man annahm, temporäre Ersetzung der Kernkraftwerke durch Kohle- und Gaskraftwerke wurde als ethisch vertretbar angesehen.
Doch hatte der Atomausstieg durchaus langfristig schwerwiegende negative Folgen für Deutschland – sowohl für die Gesundheit als auch für die Energiesicherheit und Klimabilanz. Der Atomausstieg hatte zur Folge, dass Deutschland nun als gesicherte Leistung fast nur noch fossile Kraftwerke und Biomasseverstromung zur Verfügung stehen. Das führt zu einem Mehrausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen und Luftschadstoffen. Die zusätzliche Luftverschmutzung hat wiederum vermeidbare vorzeitige Todesfälle zur Folge, Berechnungen nennen 1100 Todesfälle in Deutschland pro Jahr. Diese Kosten des Atomausstiegs wurden in der deutschen Öffentlichkeit vor 2020, als erste Gegenstimmen aufkamen, fast nicht diskutiert.
Fukushima und Tohoku: Opfer und sozioökonomische Folgen
Es gab bis auf den berichteten umstrittenen arbeitsrechtlichen Fall keine strahlenbedingten Todesfälle infolge des Atomunfalls. Dagegen starben mehr als 2000 vor allem kranke und ältere Menschen an den Folgen der Evakuierungen, die aus damaliger Sicht verständlich erscheinen, da die japanische Gesetzgebung den Entscheidern hier keine Wahl ließ. Die neueste genaue Bewertung der erhöhten Sterblichkeit vom September 2020 liegt bei 2.313 Todesfällen.
Viele Todesfälle hätten vermieden werden können, wenn nicht evakuiert worden wäre – aber zum Zeitpunkt der Evakuierung konnte man noch nicht wissen, wie sich die radioaktive Freisetzung entwickeln würde. Viele der 150.000 Fukushima-Evakuierten lebten in Notunterkünften unter schwierigen Bedingungen. 2022 zählte die UN 30.000 Menschen, die immer noch nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten. Posttraumatische Belastungsstörungen und eine erhöhte Suizidrate waren die Folge des Heimatverlusts, hinzu kommt die soziale Stigmatisierung der Evakuierten.
Im Vergleich dazu sind die Opferzahlen der Erdbebenkatastrophe und des Tsunamis zu betrachten. Das Tohoku-Erdbeben und der nachfolgende Tsunami forderten 15.000 bis 20.000 Menschenleben. Eine halbe Million Menschen flohen, 300.000 verloren alles. 2015 lebten noch 229.000 Menschen als Katastrophenflüchtlinge, 2017 sollen es noch über 130.000 Evakuierte gewesen sein, 2018 noch knapp 60.000, davon über 5.600 in Notunterkünften. 2019 waren es noch 48.000.
Neuere Schätzungen der Fukushima-Folgekosten (Rückbau der havarierten Anlage, Dekontamination, Entschädigungen) liegen sehr weit auseinander, zwischen rund 82 und rund 300 Milliarden US-Dollar angesetzt. Die Schäden der Tohuku-Katastrophe werden je nach Quelle zwischen 211 Milliarden und 407 Milliarden Dollar inklusive Versicherungsleistungen beziffert; dazu gehört auch der immense ökonomische Schaden durch Stromknappheit infolge der Abschaltung aller japanischen Kernkraftwerke nach dem Unfall. Das Bruttosozialprodukt Japans, das durch die Mehrfachkatastrophe in eine Rezession gestürzt wurde, sank um 2,2%.
Das Fukushima-Wasser
Berichte über Gefahren durch kontaminiertes Wasser für Flora, Fauna und Menschen entbehren jeder sachlichen Grundlage. Die bundeseigene Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) schreibt dazu 2023: „Mittels der Durchmischung des gelagerten Wassers mit Meerwasser bereits vor der Ableitung ins Meer soll die Tritiumkonzentration auf weniger als 1.500 Becquerel pro Liter (Bq/l) und damit auf einen Wert unterhalb der regulatorischen Anforderungen (s. Link weiter oben) sinken. Zum Vergleich: Der Grenzwert, den die Weltgesundheitsorganisation WHO für Trinkwasser vorgibt, liegt bei 10.000 Bq/l.Simulationen der Ableitung haben gezeigt, dass die Tritiumkonzentration des Meerwassers in bis zu drei Kilometern vor der Küste im ungünstigen Fall bei 1–2 Bq/l liegen kann. Der Normalwert liegt bei 0.1–1 Bq/l. Aus diesem Grund ist hier ein verstärktes Monitoring vorgesehen. Aktuell führt TEPCO zudem Studien mit unterschiedlichen Fischarten durch, um die Auswirkungen des Tritiums im Meerwasser genauer zu untersuchen.“
Gefahr in Deutschland?
Da der deutsche Atomausstieg mit dem Unfall von Fukushima begründet wurde, ist es angebracht, noch einmal einen Blick auf die reaktorsicherheitstechnische Stichhaltigkeit dieser Begründung zu werfen. Die deutschen Kernkraftwerke sind wesentlich robuster gegen naturkatastrophenbedingte Notfälle ausgerüstet als Fukushima Daiichi. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass es selbst in Fukushima zu einem Unfall dieses Ausmaßes gekommen wäre, wenn eine Anlage nach deutschem Standard in Fukushima gestanden hätte. Das hat sowohl mit den Genehmigungsvoraussetzungen deutscher Kernkraftwerke zu tun, als auch mit ihrer sicherheitstechnischen Ausrüstung und den in ihnen geltenden Notfallmaßnahmen für schwerste, auslegungsüberschreitende Unfälle. Dazu gehören unter anderem:
- Genehmigungsvoraussetzung „Anlage muss das maximale 10.000-jährige Hochwasser beherrschen“ – in Fukushima reichte eine Rückschau über 100 Jahre, sodass beim Genehmigungsverfahren historische Tsunamis großer Höhe nicht berücksichtigt wurden, wie eine Unfallanalyse des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats der Schweiz ausführt. Deshalb hatte Angela Merkel Unrecht, als sie ihren Ausstieg aus der deutschen Kernenergie damit begründete, Fukushima habe gezeigt, dass das „Restrisiko“ auch der deutschen Kernkraftwerke neu und höher bewertet werden müsse. Die Überflutung in Fukushima war kein Restrisiko der Anlage – es war ein empirisch quantifizierbares hohes Überflutungsrisiko, das von Aufsicht und Betreibern vernachlässigt wurde.
- Doppelte Notstrom- und Notspeise-Notstromversorgung in flutsicheren und im Falle des zweiten Notstromnetzes auch abgedichteten Gebäuden – in Fukushima waren Notstromaggregate und leittechnische Einrichtungen in nicht abgeschotteten Räumen im Basement der Maschinenhäuser untergebracht und wurden überflutet.
- Gefilterte Druckentlastung des Containments im Falle einer Kernschmelze – in Fukushima Daiichi erfolgte ein Großteil der radioaktiven Freisetzung über eine nicht gefilterte Druckentlastung.
- Wasserstoff-Rekombinatoren in den Reaktorgebäuden – in Fukushima fehlten diese, weil man angesichts inertisierter innenliegender Sicherheitsbehälter des dort betriebenen Siedewasserreaktortyps glaubte, darauf verzichten zu können. Apparate zur Wasserstoffrekombination verhindern die Ansammlung zündfähiger Wasserstoff-Luft-Gemische in den Anlagenräumen.
Wenn wir uns das Unfallgeschehen von Fukushima Daiichi als einen Pfad mit Weggabelungen vorstellen, dann könnte man sagen: An jeder Weggabelung, wo Fukushima den unsicheren Weg wählte, hätten Isar-2 oder Brokdorf den sicheren Weg gewählt. Käme eine Jahrtausendflut, wären die sicherheitswichtigen Teile der Anlage gegen Überflutung gesichert; fielen alle vier Notstromdiesel trotzdem aus, gäbe es noch eine zweite, flutsichere Notspeisenotstromversorgung mit vier Aggregaten; käme es trotzdem zum station blackout, würden mehrere Notfallmaßnahmen die Kernschmelze wesentlich länger herauszögern als in Fukushima, sodass Hilfe organisiert werden könnte; käme es trotzdem zur Kernschmelze, würde die Anlage gefiltert druckentlastet und die Radionuklide blieben drinnen, während das Containment intakt bliebe. Doch auch darauf haben sich die deutschen Kerntechniker*innen seinerzeit nicht ausgeruht. Auch in unseren Kernkraftwerken wurden weitere „PoFuku-“ (Post-Fukushima-) Notfallmaßnahmen ergänzt, etwa die Bereitstellung von mobilen Notstromaggregaten und die Einführung von Schnellmaßnahmen zur Notkühlung mittels Feuerlöschpumpen und Flusswasser.
Im Schatten der Atomdebatten: Kulturelles Lernen über Fukushima in Deutschland
In der deutschen Erinnerungskultur an die japanische Naturkatastrophe wird fast nur der Atomunfall erwähnt, ja das Tohuku-Ereignis wird sogar als „Fukushima“ bezeichnet, obwohl die Präfektur Fukushima nur ein kleiner Teil im Süden der am meisten betroffenen Tohoku-Provinz ist. Häufig werden die Erdbeben- und Tsunami-Opfer fälschlich dem Atomunfall zugeordnet. Dieser Fehler unterlief mehreren überregionalen Medien und atomkritischen Politikern trotz anschließender Kritik und Proteste so oft , dass man, wenn nicht bewusste Desinformation, so doch zumindest vorurteilsgeleitete Fehleinschätzungen zugrundlegen muss. Die Autoren solcher Texte haben selbst die Basisdaten nicht recherchiert, sondern lassen sich von in Deutschland weitverbreiteten Annahmen leiten. Sie halten Aussagen wie „18.000 Fukushima-Tote“ für plausibel, weil sie durch langjährig eingeübtes kulturelles Lernen katastrophistischer Erzählungen über Atomkraft, so wie sie von Schule, Medien, den Kirchen oder gesellschaftlichen Autoritäten vermittelt werden, dieser Technologie so etwas zutrauen.
Es steht zu befürchten, dass Anti-Atom-NGOs das Gedenken an die Opfer des Tohoku-Erdbebens auch am dreizehnten Jahrestag in der bekannten Weise ausnutzen und Medien mit Sachfehlern und Nachlässigkeiten bei der Berichterstattung auffallen werden. Und trotzdem ist 2024 einiges anders. Seit der Änderung der Randbedingungen deutscher Energiepolitik durch den russischen Überfall auf die Ukraine 2022 gibt es rege Debatten über einen Wiedereinstieg Deutschlands in die Kernenergienutzung. In Deutschlands Nachbarländern mehren sich die Wiedereinstiegs- oder Ausbauprogramme für Kernkraftwerke. Um die Atomdebatte in Deutschland und Europa evidenzbasiert zu führen, braucht man gesicherte Kenntnisse – auch über den Unfall von Fukushima. Wenn dieser Text zur Versachlichung beitragen kann, ist das bereits ein großer Gewinn.