Einsatz von Kernenergie – ein Gebot der Ethik?

In Deutschland ist man sich heute weitgehend einig, dass der Einsatz von Kernenergie unethisch ist. Ich komme aus einem links-grünen Pfarrhaus, bin Vegetarier und in der SPD, und ich kenne die Argumente gegen Kernenergie seit meiner Kindheit.  Aber heute denke ich, dass der Einsatz von Kernenergie nicht nur ethisch zulässig ist, sondern um des Klima- und Umweltschutzes willen sogar geboten. 

Vier Gründe für die Kernenergie

Erstens ist sie die wohl umweltfreundlichste Energiequelle, überraschenderweise selbst im Vergleich mit den Erneuerbaren:  Sie erfordert pro gewonnener Energiemenge bei weitem weniger Ressourcen und Fläche, und sie verursacht bei weitem weniger Abfall.  In einer 2015 erschienenen Studie verglichen die australischen Forscher Brook und Bradshaw systematisch die Umweltbilanzen aller Energiequellen und kamen zu dem Schluss, dass die Kernenergie das mit Abstand größte Potential für den Schutz der globalen Artenvielfalt hat.  Mit Verweis auf diese Studie riefen 75  führende Biodiversitätsforscher Umweltaktivisten in aller Welt dazu auf, sich um der Artenvielfalt willen für Kernenergie einzusetzen.  Und tatsächlich sind Umweltorganisationen entstanden, die das tun: etwa Mothers for Nuclear und Environmental Progress in den USA, Energy for Humanity in Europa, und Bright New World in Australien.

Zweitens können Kernkraftwerke fossile Kraftwerke vollständig ersetzen, während Windturbinen und Solarpaneele fossile Kraftwerke als Partner brauchen, um Dunkelflauten und jahreszeitliche Schwankungen zu überbrücken. Dementsprechend ist in Frankreich, wo Kernenergie für etwa drei Viertel der Stromerzeugung sorgt, der CO2-Ausstoß pro erzeugter Kilowattstunde Strom über achtmal so niedrig wie in Deutschland, wo es viel mehr Wind- und Solarenergie gibt.  Um auf fossile Kraftwerke zu verzichten, bräuchten wir in Deutschland etwa tausendmal größere Energiespeicher, als wir haben, und es müsste geradezu ein Wunder in der Speichertechnologie her, um uns solche Speicher zu bescheren.

Drittens werden sich Länder, denen Wohlstand und Wirtschaftswachstum wichtig sind, gegen den weiteren Ausbau von Wind- und Solarenergie entscheiden, wenn er zu immer höheren Kosten führt.  Und leider ist tatsächlich zu befürchten, dass der Strom mit zunehmendem Anteil von Wind- und Solarenergie immer teurer wird, und zwar selbst dann, wenn Windturbinen und Solarpaneele weiter billiger werden. Neben den steigenden Kosten für Netzbetrieb und Netzausbau sind wiederum die Zeiten ohne Wind und Sonne das Problem. Ihretwegen müssen fossile Kraftwerke ineffizient weiterbetrieben werden, und wir müssen dann sowohl neue als auch alte Anlagen bezahlen.  Bereits heute kostet Strom in Frankreich, wo Kernkraftwerke in den 70er und 80er Jahren serienweise gebaut wurden, kaum mehr als halb so viel wie in Deutschland.

Viertens lässt sich Kernenergie schneller ausbauen als Solar- und Windenergie.  Eine 2016 in der Zeitschrift Science erschienene Studie zeigt, dass die beeindruckende Ausbaugeschwindigkeit pro Einwohner, die Solar- und Windenergie im Rekordjahrzehnt 2004–2014 in Deutschland erzielten, weniger hoch war als die der Kernenergie im Rekordjahrzehnt 1975–1985.  Noch viel schneller bauten Frankreich und Schweden in den 70er- und 80er-Jahren die Kernenergie aus – und zwar ohne den Klimawandel als Motivation. Das macht mir Hoffnung: Falls die Menschen etwa modulare Kleinreaktoren in ihrer Nachbarschaft akzeptieren, die sich möglicherweise bald schon massenweise und preiswert produzieren lassen wie heute Solarzellen, kann es plötzlich – endlich – schnell gehen mit dem Klimaschutz.

Gefahren?

Leider denken viele Menschen, dass Kernenergie gefährlich ist. Tatsächlich ist sie im Vergleich mit anderen Formen der Energiegewinnung sehr sicher.  Pro gewonnener Energiemenge hat sie – Urangewinnung und Reaktorkatastrophen eingerechnet – bei weitem weniger Opfer gefordert als jede fossile Energiequelle und vermutlich etwa so viele wie Wind- und Solarenergie, womöglich weniger. (Ab und zu stürzen Menschen von Windturbinen oder Solardächern in den Tod.) 

Auch die verbreitete Ansicht, dass Reaktorunfälle typischerweise ganze Landstriche unbewohnbar machen, ist falsch.  Eine Studie britischer Risikoforscher hat sich die Bilanz von Evakuationen nach Reaktorunfällen angesehen und kommt zu dem Schluss, dass solche Evakuationen im Allgemeinen, zum Beispiel in Fukushima, bei weitem mehr schaden als nützen.  Das ist auch nicht besonders überraschend: An vielen zwangsevakuierten, „verstrahlten“, Orten bei Fukushima war das Strahlungsniveau weitaus niedriger als die natürliche Strahlung in Kerala in Indien oder in Ramsar im Iran, wo sich keine erhöhte Krebsrate feststellen lässt.

Überhaupt ist die Tatsache, dass es ernste Unfälle in Kernkraftwerken gegeben hat, kein Grund, auf Kernenergie zu verzichten – nicht mehr jedenfalls, als der Untergang der Titanic ein Grund gewesen wäre, auf Schifffahrt zu verzichten, und nicht mehr, als der Bruch des Banqio-Damms in China 1975 mit über 170 000 Toten ein Grund gewesen wäre, auf Wasserkraft zu verzichten.  Ingenieure, die neue Reaktoren entwerfen, haben ihre Schlüsse aus Tschernobyl und Fukushima gezogen. Sie ziehen beim Design neuer Reaktoren nicht nur Erdbeben und Tsunamis in Betracht, sondern auch mögliche Terrorakte und Flugzeugabstürze.

„Atommüll?“

Um die möglichen Risiken durch „Atommüll“ einordnen zu können, betrachten wir zunächst die Schäden durch den Müll fossiler Kraftwerke, zum Beispiel die Gesundheitsfolgen ihrer Abgase.  Dazu gehören nicht nur klimaschädliches CO2, sondern auch Schwefeldioxid, Stickstoffoxide und krebserregender Feinstaub, der außerdem Schlaganfälle, Herzinfarkte und chronische Lungenkrankheiten verursacht. Luftverschmutzung tötet laut WHO etwa 6,5 Millionen Menschen pro Jahr weltweit, etwa 11,6% aller Todesfälle. Ein Bericht von Umweltorganisationen über die Folgen von Kohleverbrennung geht alleine für Deutschland von über 3000 Todesopfern pro Jahr durch Kohle aus. Selbst wenn es eines Tages wieder einen Reaktorunfall geben sollte, stehen die Chancen gut, dass es keine Toten durch Strahlung geben würde, und höchstwahrscheinlich weniger als durch ein Kohlekraftwerk im Normalbetrieb.  Im Vergleich von fossilen Energien und Kernkraft gilt also: Kernkraftwerke – auch belgische – retten täglich Menschenleben, den Klimaforschern Kharecha und Hansen zufolge allein in Deutschland rund 100 000 im Zeitraum 1971 bis 2009.

Im Gegensatz zu den Abgasen fossiler Kraftwerke fügt „Atommüll“ so, wie er aufbewahrt wird, niemandem gesundheitlichen Schaden zu.  Gebrauchte Brennstäbe enthalten noch über 95% ihrer nutzbaren Energie, und die lässt sich in schnellen-Neutronen-Reaktoren gewinnen, wie sie heute bereits in Russland zur Stromerzeugung betrieben werden.  Gelingt es uns, diese Reaktoren zum Standard zu machen, können wir die Menschheit jahrtausendelang umweltschonend und nahezu abfallfrei mit CO2-freier Energie versorgen.  Wir sollten es zumindest versuchen.

Weltweiter Energieverbrauch

Machen wir uns klar, was auf dem Spiel steht: In den kommenden Jahren werden Milliarden Menschen in ärmeren Ländern ihren Energieverbrauch drastisch steigern müssen, um der Armut zu entfliehen.  Nur wenn ihnen dies gelingt, wenn sie Bildung und Wohlstand erlangen, wird auch dort das Bevölkerungswachstum zurückgehen. Trotzdem auf Kernenergie zu verzichten, ist, wie die finnischen Aktivisten Partanen und Korhonen sagen, ein „climate gamble“ – ein Glücksspiel mit dem Klima.

Lasst uns nicht zocken.  Lasst uns für ein Ende des Atomausstiegs in Deutschland eintreten und dafür, dass immer mehr Länder der Welt – gerade ärmere – günstig Zugang zur Kernenergie erhalten, damit sich fossile Energien möglichst bald nicht mehr lohnen.  Was auf dem Spiel steht, ist die Zukunft dieses wundervollen Planeten, die Zukunft unserer Kinder und unserer Kindeskinder.

Anmerkung: Den folgenden Meinungsbeitrag habe ich im Mai 2018 veröffentlicht. Ich würde heute nicht mehr alle Dinge so formulieren, zum Beispiel würde ich nicht mehr sagen, dass uns „nur ein Wunder“ Energiespeicher bescheren kann, durch die die Energiewende wie geplant möglich wird. Aber insgesamt stehe ich hinter den hier angestellten Überlegungen und arbeite sie derzeit weiter aus.

Dr. Simon Friederich ist Physiker und Philosoph. Er lehrt Philosophie der Naturwissenschaften an der Universität Groningen (Niederlande).

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