Deutschlands Hochrisiko-Klimastrategie – eine Kritik

Von Simon Friederich

Der Klimawandel ist ein großes, womöglich existentielles Risiko für die Menschheit. Um unsere Emissionen zu reduzieren, brauchen wir eine Strategie, von der wir zuversichtlich sein können, dass sie aufgeht. Die von Deutschland gegenwärtig verfolgte Strategie ist riskant, denn sie spekuliert – unverantwortlicherweise – auf mehrere extrem günstige technologische, ökonomische und soziale Entwicklungen. Die Risiken unserer Klimastrategie könnten zum Beispiel dadurch gesenkt werden, indem wir weiter auf die vermeintliche „Hochrisiko-Technologie“ Kernenergie setzen.

Der Klimawandel ist ein globales, katastrophales Risiko, eventuell sogar eine existentielle Bedrohung für die Menschheit. Um im Einklang unseren Beitrag zu seiner Überwindung zu leisten, muss es uns gelingen – so der von Tausenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnete Aufruf der „Scientists for Future“ – „die Netto-Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen schnell abzusenken und weltweit spätestens zwischen 2040 und 2050 auf null zu reduzieren.“ Leider ruft der Aufruf Deutschland nicht dazu auf, seine gegenwärtig verfolgte, äußerst riskante Klimastrategie zu überdenken. Diese Strategie besteht darin, dass Deutschland sein Energiesystem bis zum Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte auf 100% „erneuerbare“ Energien umstellt, und zwar vor allem Sonnen- und Windenergie. Die Strategie ist deswegen extrem riskant, weil völlig unklar ist, ob sie sich zu ökonomischen und sozialen Kosten verwirklichen lässt, die die Menschen akzeptieren werden.

Sehen wir uns zuerst eine wissenschaftliche Stimme an, die die deutsche Strategie befürwortet: die „Energywatchgroup“, deren Präsident der ehemalige Grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Josef Fell ist. Ihre im Dezember 2018 erschienene Studie „Energy Transition in Europe Across Power, Heat, Transport and Desalination Sectors modelliert den Weg hin zu einem auf 100% „erneuerbaren“ Energien basierenden Energiesystem im Jahr 2050. Die Experten behaupten, dass ein solches Energiesystem im Vergleich zum heutigen Energiesystem mit keinerlei Erhöhung der Energiekosten verbunden sein wird und darüber hinaus um ein Vielfaches mehr Arbeitsplätze schaffen wird.

Machen wir uns zunächst den Flächenverbrauch des in dieser Studie vorgeschlagenen Energiesystems klar. Einen wichtigen Beitrag zur europäischen Energieversorgung liefern ihr zufolge im Jahr 2050 in Europa Windenergieanlagen an Land, und zwar pro Jahr etwa 6000 Terawattstunden. Eine neue Meta-Studie über die Leistungsdichten verschiedener Energiequellen gibt für Windenergie an Land einen mittleren Ertrag von etwa 2 Watt pro Quadratmeter an. Zählt man, wie eine ebenfalls aktuelle Studie von Harvard-Wissenschaftlern dies tut, Flächen im Umkreis von einigen hundert Metern um die Anlagen mit, reduziert sich dies auf 0,5 bis 1 Watt pro Quadratmeter. Für die von der Energywatch-Studie geforderten 6000 Terawattstunden durch Windenergie bräuchte man damit je nach Rechenmethode etwa 350 000 bis über eine Million Quadratkilometer, also eine Fläche von mindestens der Größe der Bundesrepublik Deutschland (357 000 Quadratkilometer) bis hin zu mehr als dem Doppelten. Noch mehr Energie soll der Studie zufolge durch Sonnenenergie gewonnen werden, die ebenfalls flächenintensiv ist.

Bereits heute, wo etwa 5 % des deutschen Endenergieverbrauchs durch Windenergie (an Land und auf See) gedeckt wird, erweist es sich als schwierig, genügend Flächen für Windenergieanlagen bereitzustellen. Ein großes Hindernis sind die über tausend, inzwischen professionell organisierten Anti-Wind Bürgerinitiativen in Deutschland, die nahezu jedes neue Windenergieprojekt an Land zu torpedieren versuchen.

Angesichts dieser Schwierigkeiten geht die deutsche „Expertenkommission Forschung und Innovation“, einer Analyse von Energiesysteme der Zukunft folgend, davon aus, dass sich die Kapazität von Solar- und Windenergie in Deutschland bis zum Jahr 2050 von derzeit 110 Gigawatt nicht weiter als auf etwa 500 Gigawatt erhöhen lässt. Um trotzdem nahezu den gesamten deutschen Energiebedarf durch diese Energiequellen zu decken, müsste der deutsche Endenergieverbrauch durch Maßnahmen der Energieeffizienz und des Energiesparens bis zum Jahr 2050 um knapp zwei Drittel reduziert werden. Und so empfiehlt es die Kommission auch in ihrem diesjährigen „Jahresgutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands.“

Es ist völlig unklar, ob sich eine so drastische Senkung des deutschen Energieverbrauchs erreichen lässt. Zur Orientierung: In den vergangenen zehn Jahren ist der deutsche Endenergieverbrauch mehr oder weniger konstant bei etwa 2500 Terawattstunden pro Jahr geblieben, trotz aller Bemühungen, Energie effizienter zu nutzen und zu sparen. Maßnahmen für mehr Energieeffizienz senken den Energieverbrauch nur begrenzt, und zwar aufgrund sogenannter „Rebound“-Effekte: Wenn wir Energie effizienter und damit kostengünstiger nutzen können, besteht ein ökonomischer Anreiz, dies ausgiebiger zu tun. Die Erfahrung zeigt, dass die Menschen dies dann auch tatsächlich tun. Versucht man hingegen, den Energieverbrauch zu senken, indem man die Energiepreise stark erhöht (etwa durch Steuern und Abgaben), gefährdet dies die soziale Akzeptanz der Klimaschutzbemühungen. Hohe Energiekosten sind außerdem insbesondere für ärmere Menschen ein Problem, denn in ihrem Haushaltsbudget machen Energiekosten einen vergleichsweise großen Anteil aus.

Durch die Elektrifizierung des Verkehrs werden wir voraussichtlich den Energieverbrauch senken können. Andererseits wird ihn der geplante verstärkte Einsatz von Energiespeichern erhöhen, da Speichern mit Umwandlungsverlusten einhergeht.

In der Tat werden Energiespeicher in bislang ungekanntem Ausmaß nötig sein, wenn wir wirklich den Großteil unserer Energieversorgung durch Wind- und Sonnenenergie decken wollen, auch zu Zeiten, wenn weder die Sonne scheint noch der Wind weht. Die größten Energiespeicher Deutschlands sind derzeit Pumpspeicherkraftwerken mit einer Gesamtleistung von etwa 7 Gigawatt und einem Fassungsvermögen von insgesamt etwa 40 Gigawattstunden. Lediglich ein Zehntel des deutschen Stromverbrauchs kann durch diese Anlagen für einige Stunden aufrecht erhalten werden. Das unregelmäßige Auftreten von Überschüssen aus Solar- und Windenergie sorgt jedoch bereits heute für eine ökonomisch ungünstige Auslastung der Pumpspeicherkraftwerke.

Unbeirrt durch diese Erfahrungen gehen die Autoren der „Energywatch“-Studie davon aus, dass sich bis zum Jahr 2050 Batteriespeicher und andere Technologien wie „Power-to-gas“ pro Jahr knapp 3 Millionen Gigawattstunden Elektrizität sowie etwa 2 Millionen Gigawattstunden Wärme mit Hilfe europaweit aus Speichern bereit stellen lassen. Die Studie nimmt also an, dass wir – kostenneutral — das Volumen unserer Energiespeicher um das einige Hundert- bis Tausendfache erhöhen können – und zwar mit Hilfe von Speichermethoden, die dafür bislang noch nahezu gar nicht im Einsatz sind. Dies ist eine extrem spekulative Annahme.

Eine umfassende Übersichtsstudie eines US-amerikanischen Forscherteams hat sich vor kurzem angesehen, wie sich Elektrizitätssysteme mit sehr niedrigen Emissionen am ehesten realisieren lassen. Die Autoren dieser Studie stellen fest, dass „beträchtliche Unsicherheit besteht über die tatsächlichen Kosten, Verfügbarkeit und Erweiterbarkeit dieser Speicheroptionen.“ Mit anderen Worten: Es kann sein, dass Energiespeicher entwickelt werden, durch die ein Energiesystem mit vorwiegend Sonnen- und Windenergie auch nur ansatzweise ökonomisch realistisch wird. Aber es ist momentan nur eine Hoffnung. Verlassen können wir uns darauf nicht.

Die US-Studie macht deutlich, dass mehrere extrem günstige technologische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen im Bereich der Energiespeicher, des Netzausbaus und der Nachfrageanpassung für ein auf vor allem wetterabhängige Energiequellen wie Wind- und Sonennenergie basierendes Elektrizitätssystem zusammenkommen müssen. In der Tat ist es – in der Realität, außerhalb der Welt der Energiesystem-Modellierungen – bisher keinem Land der Welt gelungen ist, auch nur sein Elektrizitätssystem auf einen sehr hohen Anteil (von beispielsweise 80%) Solar- und Windenergie umzustellen. Deutschlands derzeitige Klimastrategie pokert darauf, dass dies doch möglich sein wird.

Dabei gibt es durchaus bewährte Strategien, mit denen man zuverlässig zumindest das Elektrizitätssystem eines Landes emissionsfrei machen kann. Die US-Studie zeigt auf, dass sich dies in der Tat mit verfügbarer Technologie zu vertretbaren Kosten realisieren lässt. Dazu bedarf es jedoch in größerem Umfang einer emissionsfreien regelbaren – d.h. weitgehend wetterunabhängigen – Stromquelle. Realistische Kandidaten sind Wasserkraft, Biomasse, fossile Energieträger mit CO2-Abscheidung sowie Kernenergie.

Dass diese Analyse realistisch ist, zeigt unser Nachbarland Frankreich. Der Anteil von Kernenergie an der Stromerzeugung beträgt dort etwa 75 %, und die CO2-Emissionen pro Energieeinheit sind um ein Vielfaches niedriger als in Deutschland. Auch Deutschland verfügt immer über rund 10 Gigawatt Kernenergie, verantwortlich für 13% seiner Stromerzeugung. Diese sollen jedoch im Zuge des „Atomausstiegs“ in den kommenden vier Jahren nach und nach abgeschaltet werden. Eine verantwortungsvolle Strategie, um dem Klimaproblem zu begegnen, würde darin bestehen, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass wir diese Kapazität beibehalten sollten und, falls es sich als ökonomisch vorteilhaft erweist, auch wieder ausbauen.

Dieser Appell ist inzwischen in Form eines offenen Briefes, unterzeichnet durch den Klimawissenschaftler James Hansen, mehrere prominente Umweltschützer und Wissenschaftler sowie über 1800 Privatleute, veröffentlicht worden. Leider ist er hoffnungslos. Kein weißer Ritter wird kommen und die Kernenergie in Deutschland retten. Ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland hat – unberechtigterweise, wie der systematische Vergleich mit anderen Formen der Energiegewinnung zeigt – Angst vor der Kernenergie. Der Atomausstieg ist beschlossene Sache. Eine einflussreiche Umweltorganisation bezeichnet Kernenergiebefürworter pauschal als „Atomlobby.“ Das Umweltbundesamt leugnet den in den IPCC-Berichten ausgedrückten Konsens der Klima- und Energieforschung, dass Kernenergie etwa gleichviel Emissionen pro Energieeinheit erzeugt wie Windenenergie und weniger als Solarenergie. Die Scientists for Future erwähnen die Kernenergie in ihrer Stellungnahme mit keinem Wort. Die Regierungsparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag sogar vereinbart, sich für die Abkehr von der Kernenergie weltweit einzusetzen. Ein unverantwortlicheres Vorhaben ist angesichts des die ganze Menschheit betreffenden globalen Klimaproblems schwer vorstellbar.

Vielleicht haben wir ja doch Glück mit unserer Hochrisiko-Strategie, um unsere Emissionen auf Null zu reduzieren. Es bleibt zu hoffen.

Erstmals veröffentlicht am 28.7.2019

Teile den Beitrag

Andere Beiträge