Alle lieben Wasserstoff, das »Schweizer Taschenmesser« der Energiewende. Als Stromspeicher, chemischer Grundstoff und Wärmelieferant soll H₂ in Zukunft in allen möglichen Sektoren eingesetzt werden. Doch der Wunderstoff ist mit einer Menge Probleme verbunden, die gerade in Deutschland, dem Heimatland der »Energiewende«, gern verschwiegen werden. Geschickt an den Anfang der parlamentarischen Sommerpause so platziert, dass ein Großteil des politischen Deutschlands und der Klimabewegung gerade im Urlaub weilte, veröffentlichte die Bundesregierung Ende Juli 2023 die Aktualisierung der deutschen »Nationalen Wasserstoffstrategie«, in der diese Probleme noch deutlicher zutage treten.
Aktuell gilt: Wäre Wasserstoff ein Land, wäre es mit über 900 Megatonnen CO₂ pro Jahr der sechstgrößte CO₂-Emitter der Welt (direkt hinter Japan und vor Deutschland). Diese schmutzige Industrie soll sich nun, folgt man den gängigen Prognosen, bis 2050 nicht nur ver6- bis 7-fachen, sondern zugleich »grün« werden! Klingt irre, oder?
Es wird noch verrückter: Gegenwärtig macht Wasserstoff aus Elektrolyse ca. 0,04 Prozent der globalen H₂-Produktion aus. (IEA 2022, S.71) Für 100 Prozent grünen H₂ bei 6x größeren Verbrauch im Jahr 2050 müsste sich dessen Produktion bis dahin also ver15-TAUSENDfachen!!
Dass dies absehbar nicht funktionieren wird, spricht sich allmählich herum. Entsprechend setzt die aktualisierte deutsche Nationale Wasserstoffstrategie
1. wesentlich stärker als bisher auf importierten Wasserstoff und
2. auf »blauen« Wasserstoff (also Wasserstoff aus fossilem Gas+CCS).
Bisher war gerade Letzteres ein dickes No-No: Noch 2022 war man strikt dagegen, schließlich verspricht die Energiewende à la Germania »100 Prozent Erneuerbare Energien«, nicht die Fortsetzung des fossilen Zeitalters. – Dann kam die Kehrtwende:
Für das Klima ist der Strategiewechsel ein Desaster, für die deutsche Energiewende ein Offenbarungseid, denn der Klimanutzen einer zukünftigen Wasserstoffwirtschaft hängt extrem vom H₂-Mix und der Leckagerate ab. In einem absolut sehenswerten Vortrag erläutert die Klimawissenschaftlerin Ilissa Ocko den Zusammenhang. Ocko ist Co-Autorin einer mit dem Paul Crutzen Publication Award 2022 ausgezeichneten Forschungsarbeit die dieser Frage nachgeht, (Ergänzend zu dieser Arbeit auch ein Kommentar.) Was H₂-Fans nur selten erwähnen: Obwohl Wasserstoff selbst keine Wärme „einfängt“, ist H₂ (auch »grün«!) effektiv ein Treibhausgas mit einem GWP₂₀ von ca. 37 (GWP₁₀₀≈12, aktuelle Metastudie: A multi-model assessment of the Global Warming Potential of hydrogen). Pro Molekül trägt H₂ über 20 Jahre also etwa 37x mehr zur Erwärmung bei als CO₂ und immerhin knapp halb so viel wie Methan. Der Grund wird in der Grafik unten erläutert: Wasserstoff reagiert mit anderen Gasen in der Luft und trägt so zur Verlängerung der Verweildauer von Methan bei, außerdem reagiert es in der Stratosphäre zu Wasser, das in diesen Höhen ebenfalls erwärmend wirkt.
Klimaschädliche Lecks können entlang der gesamten Wertschöpfungskette auftreten: Produktion, Kompression, Speicherung, Verteilung, Anwendung. Mit erhöhten Leckageraten verbunden ist
1. komplizierte Transportlogistik, also insbesondere von überall aus der Welt importierter Wasserstoff, und
2. ausgedehnte Verteilnetze zum Endverbraucher, etwa zu Wasserstofftankstellen für H₂-Mobilität oder zum Heizen von Wohnräumen.
Hinzu kommt ein ökonomischer Gesichtspunkt: Die engmaschige Überwachung und Wartung vieler Streckenkilometer kleiner Pipelines mit geringem Durchfluss ist sehr teuer und letztlich unwirtschaftlich – bei Pipelines mit hohem Durchfluss zu Großverbrauchern hingegen refinanziert der eingesparte Wasserstoff den Aufwand, denn der nicht ausgetretene Wasserstoff lässt sich verkaufen. Unter anderem deshalb ist eine eigentlich vermeidbare, dezentrale Nutzung von Wasserstoff eine schlechte Idee. Die Zukunft privater PKWs und Heizungen ist elektrisch. Aber auch auf der Produktionsseite kommt es darauf an, möglichst verbrauchernah zu erzeugen, um lange und komplexe Transportwege zu vermeiden.
Beim Vergleich von blauem Wasserstoff und sauberen Alternativen zeigt sich schließlich auch: Der potentielle Schaden durch entwichenes Methan ist deutlich größer als durch entwichenen Wasserstoff: Tatsächlich entsprechen die Vorteile fossilfreien Wasserstoffs selbst im »worst case« grob dem »best case« von blauem Wasserstoff.
Blauen und über komplexe Transportwege importierten Wasserstoff in die Nationale Wasserstoffstrategie zu integrieren, ist unter der Prämisse »100 Prozent Erneuerbare Energie« einerseits mangels Alternativen konsequent, andererseits aber Augenwischerei, denn der blaue Wasserstoff ist ja fossil. – Die Klimaziele lassen sich so kaum erreichen. Dies kann nur mit einer klimapolitisch optimalen Wasserstoffstrategie gelingen. Diese müsste sich auf drei Punkte konzentrieren:
1. Wir sollten mit möglichst wenig H₂ auskommen, denn je weniger wir brauchen, desto schneller werden wir den klimaschädlichen fossilen blauen Wasserstoff los. Daher gilt es möglichst viele Sektoren vollständig zu elektrifizieren und mit direkt genutzten Strom zu betreiben.
2. Dennoch benötigter Wasserstoff sollte auf möglichst kurzen Wegen zu den (Groß-)Verbrauchern gelangen.
3. Alle verfügbaren Quellen zur Produktion von sauberem H₂ sollten genutzt werden.
Damit sind wir abschließend bei dem Punkt angelangt, der den Jüngern der deutschen Energiewende besonders unangenehm sein dürfte, denn alle drei Punkte sprechen für Kernkraft im Energiemix:
a) Mit Kernkraft im Energiemix bräuchten wir viel weniger Wasserstoff, weil wir weniger Speicher brauchen und sich evtl. auch andere Bereiche wie die Stahlproduktion direkt elektrifizieren ließen.
b) Eine zusätzliche Quelle beständiger (!) sauberer Energie wird bei der Skalierung und dem wirtschaftlichen Betrieb der teuren Elektrolyseure helfen: »Roter« bzw. »violetter« Wasserstoff aus Kernkraft ist genauso CO₂-arm und damit „grün“ wie Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien.
Zusammen sorgen a) und b) dafür, dass blauer Wasserstoff aus fossilen Quellen viel schneller verdrängt wird und die besonders gefährlichen Methanemissionen auf null sinken.
c) Schließlich lässt sich mit Kernkraft benötigter Wasserstoff direkt in der Nähe den Großverbrauchern produzieren, anstatt ihn um die Welt zu schippern. Dies würde weitere Lecks »stopfen«.
Einer Studie des RTE (Réseau de Transport d’Electricité, der französische Übertragungsnetzbetreiber) bringt den Zusammenhang auf den Punkt: »Der Bedarf an neuen und auf klimaneutrale Gasvorräte (wie Wasserstoff) aufbauenden Wärmekraftwerken ist hoch, wenn die Kernenergie nur in geringem Maße neu belebt wird, jedoch massiv – und damit teuer – wenn 100 % erneuerbare Energien angestrebt werden.«
Zusammengefasst:
Die aktualisierte Nationale Wasserstoffstrategie offenbart tiefe Unzulänglichkeiten der deutschen Energiewende. Insbesondere global gedacht lassen sich die Klimaziele so kaum erreichen. Der Einsatz von Kernkraft könnte den Bedarf nach Wasserstoff drastisch senken und bietet deshalb einen höheren Klimanutzen als 100-Prozent-Erneuerbare mit Wasserstoff als Backup.